sind wir arm?

Gestern nachmittag standen wir, die Betreiberinnen dieses Weblogs, in der Schlange eines beliebten Eisladens in Berlin-Kreuzberg. Das Eis in diesem Laden ist sehr lecker, kostet aber 90 Cent pro Kugel. Während wir überlegten, welche Sorte wir nehmen sollten, fiel uns auf, dass wir beide nur jeweils eine Kugel in Erwägung zogen. Die Frage in unserem Kopf lautete also „Zitrone oder Schoko?“, und nicht „Limette, Karamel & Mocca oder Zimt, Apfel & Joghurt?“. Der Grund war, wie so oft, Geld. 90 Cent ist schon fast ein Euro. Und ein Euro ist schon ein Zehntel des theoretisch errechneten Tagessatzes für ALG-II-Empfänger/innen. Und wenn wir heute Zimt, Apfel & Joghurt nehmen, dann reicht es spätestens übernächste Woche gar nicht mehr für ein Eis. Aber Eis ist toll. Wir lieben Eis.

Mit Hartz-IV-Bezug leben wir am Existenzminimum. Wir sind offiziell kurz vor arm. Wir erhalten 347 Euro im Monat. Plus Miete. Plus Krankenversicherung. Von den 347 Euro aber müssen wir alles bestreiten, was anfällt, von der Stromrechnung bis zur Praxisgebühr, von Lebensmitteln bis zum Freizeitvergnügen. Immer wenn uns jemand fragt: „wieviel Geld kriegt ihr denn vom Amt?“ rollen die Leute, die es vorher nicht wußten, bei der Antwort mit den Augen und sagen so etwas wie „Puh, das ist ja ganz schön wenig.“ Das IST ganz schön wenig. Aber wir leben ja davon. Es geht ja, irgendwie.

Nach dem neuesten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung 2008 sind 13 Prozent der Bundesbürger arm. Weitere 13 Prozent der Deutschen werden durch staatliche Sozialleistungen wie Hartz IV vor Armut bewahrt. Reich ist nach EU-Definition, wer im Monat als Alleinstehender mehr als 3418 Euro netto verdient. Arm ist, wer als Alleinstehender weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verdient: z.Zt. 781 Euro Netto.

Wir haben uns überlegt, vielleicht auch als Kommentar zu diesem Bericht, ein 347-Euro-Tagebuch zu führen. Im Selbstversuch wollen wir herausfinden, unter Realbedingungen, wie schnell und für was die sogenannten Leistungen zur Grundsicherung flöten gehen. Was heisst in diesem Zusammenhang überhaupt Grundsicherung? Gehört ein Eis zur Grundsicherung? An welchen Stellen muss man als Hartzie eben verzichten? Wie oft muss man verzichten? Und wie wählt man aus, auf was man verzichten kann? Nun denn. An den Start gehe ich, hier _moosweiblein_ genannt:

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Startguthaben am So, 1. Juni 2008:

347 EURO

Bisher ausgegeben:

-Stromabschlag Juni: 18 EUR
-Junirate für eine Versicherung: 25 EUR
-Abzahlen von geliehenem Geld: 10 EUR
-Wochengroßeinkauf: 25 EUR
-Drogerieartikel: 4,50
-Essen unterwegs (das Eis eingerechnet): 4,40

Es verbleiben am Di, 3. Juni 2008:

260, 10 EUR

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2 Kommentare zu „sind wir arm?

  1. Sind wir arm oder soll das der zukünftig normale Lebensstil der Menschen sein,
    die nicht zur „Oberen Schicht“ gehören???

    Ich habe einen Job (ca. 40-50 Stunden die Woche) und verdiene dabei monatlich
    1405€ netto. Außer einem Kredit, den ich mit 200€ monatlich abzahle, habe ich
    neben den normalen Fixkosten wie Miete, Strom, Telefon/Internet, Handy,
    Kostgeld, etc. keine besonderen Ausgaben – auch kein Auto.

    Meine Freundin ist seit letzter Woche arbeitslos und die 60% Arbeitslosengeld
    von Ihrem Hungerlohn als Call-Center-Agentin (bei 30 Std./W waren es ca. 550€
    mtl.) reichen gerade dafür aus, dass sie mir ihren Miet- und Stromanteil sowie
    ihr Handy bezahlen kann – das war´s. Und was soll sie den Rest des Monats ohne
    Geld machen – bzw. was ist mit Bewerbungen und Passbildern? Die kosten auch eine
    Menge, wenn es gut aussehen soll. Da geht es dann schon an mein Taschengeld…

    Zusammen haben wir also zukünftig für zwei Personen ca. 1700€ zu Verfügung.
    Davon sind nach Abzug der Fixkosten (Miete, Strom, Kredit, Internet, 2 Handys,
    GEZ, Versicherungen, etc.) noch ca. 700€ übrig.

    Obwohl wir fast nur noch Billigprodukte und nur das Nötigste an Nahrungs- und
    Hygiene-Mitteln kaufen, sind 350-400€ Kostgeld für uns zwei normal geworden. Gut
    – es wird auch mal ne Packung „Brunch“ oder „Zwiebelmett“ gekauft, die dann
    etwas teurer sind, aber das wird einem Normalverdiener doch auch mal vergönnt
    sein oder?

    Der Wocheneinkauf liegt bei 40 bis 60€ – je nachdem. Und fürs Wochenende
    veranschlagen wir dann noch einmal 20-30€. Darin sind aber auch schon die Kosten
    für ein Eis beim Spaziergang, Geburtstagsgeschenke oder zwei Bier in der Disco
    enthalten. Man kann also sagen, dass wir für 7 Tage Leben, inklusive
    Taschengeld, zu zweit zwischen 70 und 100€ verbrauchen – ist das zu viel? Ich
    meine nicht… – es ist einfach so, dass fast alles teurer geworden ist. Zuletzt
    die Geflügel und Milchprodukte die von einem auf den anderen Tag plötzlich 20-30
    Cent mehr kosteten. Da überlegt man es sich zweimal, ob man den Quarkaufstrich
    mitnimmt, um die Wurst zu verfeinern oder dann doch lieber nur eine Scheibe
    Wurst mit Lätta zu sich nimmt…echt traurig!

    Damit bleiben dann noch 200-250€ über, von denen ich mir dann auch gerne mal ein
    PC-Spiel, einen Gang ins Kino oder etwas anderes gönnen möchte und mich damit
    für meine geleistete Arbeit belohne – denn wofür arbeitet man sonst?

    Meiner Freundin gebe ich je nach Anlass dann auch noch 5-10€ Taschengeld für
    ein bisschen Schminke oder einen Cocktail, wenn sie sich mit ihren Freundinnen
    trifft. Aber so richtig Spaß kommt bei all dem nicht auf, weil man ständig auf
    jeden Cent achten muss 😦

    Man merkt besonders, dass man „arm“ ist, wenn – wie jetzt wieder – eine
    Heizkostennachzahlung über 230€ ins Haus geflattert kommt – obwohl man im Sommer
    eh nicht mehr heizt und im Winter hofft, dass die durch die Wohnung laufenden
    Heizungsrohre für genügend Wärme sorgen. An die Stromnachzahlung, die in 1-2
    Monaten kommt, mag ich noch gar nicht denken und der 20 Jahre alte Kühlschrank,
    den ich vor 7 Jahren von Oma bekommen habe, gibt auch langsam den Geist auf.
    Normalerweise müsste ich jeden Monat 50-100€ für solche Fälle weglegen, aber wovon?

    Die Besuche der Familie meiner Freundin mit dem Zug kosten uns auch jedes Mal
    60€ für ein Wochenende (Hin- und Rückfahrt mit dem Wochenend-Ticket) – plus
    kleine Geschenke für die kleinen Nichten. Ohne etwas, mag man als Onkel und
    Tante ja auch nicht dort antanzen, wenn man eh schon nur 2-3 Mal im Jahr dort
    hinkommt.

    Ich war mit meinen 34 Jahren noch im Urlaub – meine Freundin mit Ihren 22 Jahren
    auch nicht. Durch die ganze finanzielle Situation kommt es zusätzlich auch noch
    zu seelischen Belastungen, die sich dann auch schnell mal auf die Beziehung
    auswirken. An die Gründung einer richtig kleinen Familie ist momentan gar nicht
    zu denken. Vielleicht sollte der Staat auch mal an seine Familien und Kinder
    „von morgen“ denken. Für die immer weiter schwindende Fortpflanzung in
    Deutschland gibt es schließlich Gründe…da hilft kein Jammern der Politiker – da
    muss gehandelt werden!

    Ich habe momentan noch das Glück, dass mir meine Mutter ab und zu – zum
    Monatsende – noch einmal 50€ zustecken kann – ansonsten ist es wirklich immer
    sehr eng und es kommt nur Toast und die 200g Billig-Wurst für 60 Cent oder
    Nudeln auf den Tisch. Naja, aber auch meiner Mutter tun die 50€ aufgrund der
    hohen Spritpreise, Steuervorauszahlungen (was für ein Witz vom Staat), erhöhten
    Lebenskosten, etc. immer mehr weh…

    Am besten ist es wirklich, wenn man sich als unverheiratetes Paar räumlich
    trennt und der arbeitslose Part dann zumindest das bekommt, was ihm zusteht.
    Würde meine Freundin jetzt Harz IV beziehen, würde sie „nichts“ bekommen, weil
    wir zusammen wohnen und ich zu viel verdiene. Es ist doch ein Witz, dass „ich“
    meine Freundin – die eine eigenständige Persönlichkeit darstellt – dann komplett
    miternähren und finanzieren muss, obwohl sie gearbeitet und in die Kassen
    eingezahlt hat!

    Auch das Thema GEZ regt mich immer wieder und in letzter Zeit immer mehr auf.
    Das Programm besteht seit Monaten nur noch aus Wiederholungen, Kochsendungen,
    Soaps, alten Filmen und massig Werbung. Die Artikelinhalte werden von Format zu
    Format gereicht und selbst so ein Format wie „Brisant“ macht jetzt schon „Best
    of“ Sendung! Ein echter Witz und vor den Bürgern absolut nicht zu vertreten!

    So schön Digital-TV und 16:9 Format auch sind – wozu, wenn der Inhalt fehlt, die
    Werbung immer mehr wird und Werbung sogar zeitgleich auf diversen Kanälen läuft,
    so dass es einem vorkommt, als wenn die Sender sich absprechen würden. Selbst
    ARD und ZDF haben doch inzwischen Werbeunterbrechungen – wozu also GEZ-Gebühren
    von über 50€ vierteljährlich – und das von fast jedem erwachsenem Einwohner
    Deutschlands?

    Wie kann es überhaupt sein, dass einen der Staat dazu „zwingt“
    öffentlich-rechtliche Sender zu empfangen und zu bezahlen? Nur, weil mein
    Fernseher die Möglichkeit bietet die Programme zu empfangen? Dann sollen sie
    einen kleinen Kasten vor den Anschluss setzen, der die Frequenzen dieser Sender
    stört und nicht mehr nutzbar macht. Die frei empfangbaren und privaten Sender
    würden mir allemal ausreichen, da ich – wenn ich denn mal Zeit dafür habe – eh
    lieber eine DVD einwerfe und mir die Nachrichten im Internet anschaue.

    Ich würde mir wünschen, dass die Deutschen endlich mal auf die Straße gehen! So
    wie die Franzosen, die deutlich zum Ausdruck bringen, wenn sie sich mal wieder
    vom Staat verar***t fühlen – das Leben macht so auf jeden Fall keinen Spaß mehr…

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  2. hallo und dirk und vielen dank erstmal für dein sehr ausführliches feedback! ich denke, deine situation ist ebenso exemplarisch wie die meine – und armut (gefühlte oder tatsächliche) in blogosphäre eine vernachlässigtes thema. daher würde ich gerne hier texte schreiben, von denen sich der ein oder andere erkannt/angesprochen/abgeholt fühlt, weil er/sie ähnliches erlebt. meine ursprüngliche idee hinter SCHIMÄRE war: draußen tobt die dunkelziffer der arbeitslosen und sich-in-maßnahmen-befindlichen und der praktikanten und der minijobber und der von-projekt-zu-projekt-hangler und der von-der-hand-in-den-mund-lebenden. da wollte ich als eine exemplarische stimme berichten. ich freue mich immer sehr über weitere. so, wie deine. komm gerne öfters mal vorbei!

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