#lament: Einstürzende Neubauten im Radialsystem, doch noch ein Review

Sonntag, 27. Dezember 2015. Feierliche Stimmung im Radialsystem. LAMENT. Es ist mein erstes Mal Neubauten live, ich bin gespannt. (Am Ende war ich so buchstäblich beeindruckt, dass ich das Erlebte erstmal sackenlassen musste. Deshalb erst jetzt.) Ich dachte, es handele sich um eine Werkschau der Neubauten. Tatsächlich aber ist LAMENT eine Auftrags-Live-Performance-Arbeit für die Region Flandern anlässlich des Gedenkens an den ersten Weltkrieg. Die Uraufführung fand im Rahmen der 100-Jahre-Gedenkfeierlichkeiten in der belgischen Stadt Diksmuide statt. Zwar gibt es das Album LAMENT, von der Intention her ist es jedoch eine Schöpfung für die Bühne. Das Bemerkenswerte an der Performance ist: keine Didaktik sondern sinnliche Erfahrung. Die vier aufeinanderfolgenden LAMENT-Abende im Radialsystem passten im übrigen perfekt zu Weihnachten und zur Tagespolitik. Es ist Krieg und Nachkrieg, in den Familien und in der Welt. Ich greife drei Stücke exemplarisch heraus:

© Mote Sinabel/BMG, click to view source

Das obige Bild zeigt den berührendsten Moment des Abends: Blixa singt „Sag mir wo die Blumen sind“ a capella, gehüllt in eine papierene Nachempfindung des Marlene-Dietrich’schen Schwanenfedermantels. Der berühmte Mantel aus weißen Daunenfedern wurde seinerzeit Marlenes mondänes Markenzeichen, sie trug ihn das erste Mal öffentlich 1957 in Las Vegas; es wurden dafür Federn von mehr als 300 Schwänen verarbeitet. Enorm in vielerlei Hinsicht. Was ich nicht wusste: Marlene Dietrich war die Erste, die das Lied in seiner deutschen Version öffentlich vorgetragen hat. Das war 1962 in Düsseldorf bei der UNICEF-Gala. Nun hier also Blixa, ganz allein, reduziert, roh. Im Kontext des musikalisch krachigen Abends erscheint das Lied unfassbar zart und zugleich politisch. Es berührt mich zutiefst. Nicht auf einer Hach-mir-kullern-die-Tränen-Ebene, eher in der Ahnung begriffen, das sich hier grade etwas Bedeutsames vollzieht. Wie kann es beschreiben: die Notwendigkeit von Pazifismus sinnlich erfahrbar machen… so ähnlich vielleicht.

© Rinderspacher, click to view source

Den Abend eröffnet brachial das Stück „Kriegsmaschinerie„. Krach mit selbstgebauten Instrumenten, Blixa hält den zugehörigen Text auf Tafeln geschrieben stückweise nach oben zum lesen: Der Krieg bricht nicht aus, war nie gefangen oder angekettet … Er hebt sich langsam, als wären seine Gelenke aus der Übung gekommen, streckt sich, wächst, bis zu legendärer, heldenhafter Übergröße. Hier fällt mir das erste Mal auf: wie angenehm und wie besonders, auf Video, Filmschnipsel, Projektionen oder andere technische Spielereien zu verzichten. Die Texttafeln stehen in einer großen Box, Blixa hebt sie einzeln heraus und trägt sie hoch über seinem Kopf vorne zum Bühnenrand, verweilt dort, lässt uns lesen, und wiederholt dies dann mit der nächsten Tafel. Während um ihn herum die bedrohliche Geräuschekulisse an- und abschwillt.

Die durchkonzipierteste Arbeit stellt das Stück „Der 1. Weltkrieg (Percussion Version)“ dar: auf einem Tisch sind große verschieden lange Rohre angeordnet, so dass sich ein Mega-Xylophon ergibt, bei der jedes Rohr für eine an WW1 beteiligte Nation steht. Das Instrument wird von Axel Hacke und N.U. Unruh gespielt, jeder ihrer Schläge repräsentiert dabei einen Tag des Krieges, angefangen vom Tag der militärischen Beteiligung der jeweiligen Nation bis zu ihrem Ende. Ein statistisches Stück, dem eine mathematische Kalkulation zugrunde liegt: wenn im 4/4 Takt bei 120 bpm gespielt wird, jeder Schlag für einen Tag Krieg steht, und jedes Rohr eine der Kriegsmächte mit Kriegseintritts- und Austrittsdatum abbilden soll, welche Spielzeit ergibt sich dann? Die Neubauten setzen auf vollkommen analoge, hier außerordentlich schweißtreibende, Live-Arbeit. Und mit dem Zucken im Fuß, welches sich beim Zuhören unweigerlich einstellt, wird einem die Kriegslänge schmerzlich bewusst. Wir sollen froh sein, scherzt die Band, dass das Stück nicht den 30jährigen Krieg abbildet, dies überlasse man der Blue Man Group.

Nach Konzertende bleibe ich zusammen mit meiner Begleitung – die zum Glück Nägel mit Köpfen machte und die Karten besorgt hat –  eine ganze Weile schweigend auf der podestartigen Treppe, die das Publikum beherbergt, sitzen. Wir sind von den Socken, berauscht, durchgerüttelt, berührt, auch mit Ehrfurcht erfüllt. Es war ein sehr besonderer Abend und mein Konzertereignis des Jahres 2015.

Weiterlesen: Ein tolles Interview von Ulf Kubanke mit Blixa Bargeld zum Album LAMENT gibt es bei laut.de, und eine schöne Rezension der Münchner Aufführung vom Vorjahr schrieb Saskia Müller für die faz.

© Neubauten, click to view source

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